Revier
Die entscheidenden Szenen eines Romans spielen sich an entscheidenden Orten ab! Große Dramen finden nicht selten unter großen Bäumen, zwischen riesigen Bergen oder in tiefen Schluchten statt. Die Einflüsse der Umwelt tragen maßgeblich zum Rudelalltag bei und so sollten wir uns den Schauplätzen der Wölfe der Nacht widmen. Spüre den Wind auf deiner Haut, die Sonne in deinem Gesicht und lausche dem leichten Plätschern der Bäche und Flüsse …
Nachdem das Tal der Nacht von dem einen großen Unglück heimgesucht wurde, das den Pflanzen das Licht und den Tieren die Nahrung fortgenommen hatte, war den Wölfen ihr Grund zum Leben unter den Pfoten entrissen. Was blieb war eine lang anhaltende Dunkelheit. Die Sonne, verdeckt von finsteren Aschewolken.
Erst die Zeit war im Stande diese Wunde zu heilen und den Bewohnern das Tageslicht zurückzugeben. Doch war das Leben in seiner ursprünglichen Form gewichen. Das Grün war eingegangen und vertrocknet, der Lichtentzug hatte die Blumen welken lassen. Einsetzender Schneefalls erschwerte den Tieren das Überleben. Geblieben war nichts als Trostlosigkeit, Kälte und eine Wüste aus Schnee.
Die Wanderung durch das Tal wurde zur Zerreißprobe für das wachsende Rudel. Schnee und Eis hielten die Geschöpfe fest in ihren Klauen und nahmen so manches Mal die Hoffnung auf bessere Tage. Der Schnee blendete die Augen der geschundenen Tiere, die Eiskristalle lagerte sich in ihrem Pelz an und zwangen die Rudelmitglieder zum Zusammenhalt. Anders war es ihnen unmöglich, die weiße Wüste, die so leer vom Leben war, zu überstehen.
Doch so, wie das Ende des Tunnels durch ein vielversprechendes Licht gekennzeichnet ist, so bietet auch das verloren geglaubte Land der Nachtwölfe einen Ausweg. Pfade, die durch Gebirge, Gletscher und Gebirge führen, markieren den gefährlichen Weg in ein besseres Land. Es waren vor allem die Störche die – so wusste jeder Wolf – stets die wärmeren Gefilde suchten, wenn der Winter das Tal in seinen eisigen Klauen hielt. Die Hoffnung, getragen von den Schwingen der Störche. Was nun noch fehlte war der Mut, ihrem Weg zu folgen.
Doch gibt es ein Problem, dass die Gruppe immer wieder auf eine Zerreißprobe stellte: Wölfe können nicht fliegen! Wie also folgen denen, die über Gefahren hinwegflogen, so als waren sie gar nicht real? War die Idee von Störchen, die um ein besseres Land wusste, überhaupt real? Wann hatte man überhaupt den letzten Storch fliegen sehen? Wer konnte schon sagen, ob die Störche überhaupt überlebten? Oder anders gefragt … wie viel Verstand konnten Geschöpfe mit sich führen, die einen Kopf, kaum größer als eine Wolfspfote, besaßen. Die stummen Wanderer, die allenfalls durch ihr Flügelschlagen und ihr Schnabeklappern auf sich aufmerksam machten, waren gewiss nicht die besten Wegmarkierer. Wölfe und Störche … das passte nicht zusammen! Es gehörte unbeschreibbar viel Mut und Willen dazu, dem fremdartigen Federvieh die Leben der Rudelmitglieder anzuvertrauen.
Doch dort! Was war das? Hinter all den tückischen Stellen des Weges, den blubbernden Mooren und den lawinengefährdeten Bergen, da wartete das Land der Störche auf sie! Die Storchenhalbinsel war echt. Sie barg all die Hoffnungen, die zuvor nur die optimistischen Wölfe in ihrem Köpfen zu hoffen gewagt hatten, in ganzer Natur. Ein Land, dass trotz des anhaltenden Winters noch schneefreie Heiden, ja sogar trockene Wälder für die Tiere bereithielten, die geschunden waren von Schnee und Dunkelheit. Die Halbinsel war dazu bestimmt, ein autarkes Ökosystem zu sein, das seine Wärme nicht den schwachen Sonnenstrahlen verdankte, sondern vielmehr dem Unterseevulkan, der in der Nebelbucht lag und Magma an das Meer abtrat.
Die Storcheninsel als letzter Zufluchtsort, eine Küste, die sich mit einer wochenlangen Wanderung kaum erschließen lassen würde. Es war das Land der Wölfe, Bären und ihrer Beute. Das Land derer, die stark genug waren den Weg bis hier zu überstehen oder die sich Teil einer starken Gruppe nennen konnten. Eine Gruppe wie die der Wölfe. Denn ohne Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung wäre dieser Weg nicht zu meistern gewesen. Mit wunden Pfoten und vom Schnee geblendeten Augen erreichten die Wölfe dieses Land, das ihnen so viel Zukunft bereithielt, dass keiner von ihnen länger fürchten musste von den Auswirkungen des des Kometen heimgesucht zu werden.
Doch was erwartete die tapferen Wanderer auf diesem ihnen unbekannten warmen Land? Die Storchenhalbinsel war ein Ort des Lebens, auf dem sich die Reste der einst so vielfältigen Natur bewahren konnten. Der Vulkan als Spender der Wärme, der den Pflanzen das Sprießen ermöglichte, den Bäumen das Wachsen. Es war das Fortwähren des nimmermüden Kreislaufs aus Fressen und gefressen werden. Satte Wälder, durch die Hirsche sprangen, in denen Füchse und Kaninchen ihre Baue gruben und die Vögel den frohlockenden Gesang des Frühlings erklingen ließen. Es war das zweite Leben nach dem Tal. Die Belohnung der Zuversicht, des Zusammenhalts, derer, die nicht aufgegeben hatten an den Fortbestand zu glauben.
Die Insel, das war das Tal der Träume. Doch es waren gelebte Träume, die viel versprachen. Doch Erwartungen bargen Enttäuschungen. Kein Land ohne Gefahren. Weißt du, was unter dem dichten Gras kreuchte? Wer konnte sagen, was die mannshohen Gesteine bereithielten? Was brachte der Regen, was das Meer? Das Tal der Störche war der letzte Zufluchtsort. Es war ein Land von begrenzter Größe. Wurden es zu viele Tiere, brach das natürliche System der Natur auseinander, doch waren es zu wenige, so konnte sich die Art kaum halten. So mochte die flimmernde Sommerluft der Halbinsel nicht nur Schmetterlinge zu den Wölfen tragen, sondern auch so manch sorgevollen Gedanken um die Zukunft.
Denn die Weite des neuen Landes täuschte. Die Küste war vom Wasser umgeben, das den Landsäugetieren den Weg nach außen versperrte. Und mochten die Gewässer auf dem Land lebenswichtige Wasserspender sein, so war das Meer, das wegen seines Salzgehaltes für niemanden trinkbar war, doch nichts anderes als eine einzig große Barriere, ein Niemandsland für Wölfe und andere Raubtiere an Land. Die Storchenhalbinsel war ein kostbares Gut, das es vor den Widrigkeiten der äußeren Welt – Kälte, Wasser bis zum Horizont - zu verteidigen galt.
Die Flüsse der Insel markierten den Weg zur Küste und waren der einzige Ort, an dem sich alle Bewohner der Insel versammelten. Der Wolf suchte das Reh, der Fuchs die Ente und so bot das Gewässer jedem einen Zugang zu Wasser und Nahrung. Es waren die Lebensadern dieses Tals, die gleichzeitig das Zuhause der Wasserbewohner waren. Doch bargen Flüsse und Seen Geheimnisse, deren Offenbarung mitunter einen hohen Tribut forderten. Die Tiefe des stillen Wassers war gleichzeitig die Ahnungslosigkeit der Landbewohner. Was wohnte unter der zwielichtigen Oberfläche. Was hielt das Wasser wie ein dunkler Mantel vor den Augen der Wölfe versteckt? Jeder Spaziergang ins Wasser bedeutete ein Spiel mit der Ungewissheit.
Nicht anders konnte es bei den Seen sein, welche sich über die Halbinsel erstreckten. Ihre oftmals ruhige und friedliche Wasseroberfläche mochte der Schein sein, der wie so oft trog! Doch im Grunde blieb dieser Sammelplatz des Waldes die einzige Möglichkeit, etwas gegen ausgetrocknete Kehlen zu tun. Sein erfrischendes Nass war eine willkommene Abwechslung, was sich gewiss vor allem über die Sommerzeit sagen lässt. Das dichte Schilf umgab das Becken wie einen Vorhang, hinter dem so manche neugierige Wolfsaugen hindruchluken mochten. Denn eines lässt sich ohne zu zögern über die Pelzigen sagen: Sie waren Meister des Anschleichens, Künstler des Verborgenen.
Und ebenso gewiss galt Selbiges von den Wäldern zu vermuten, die erst im Sommer ihre wahre Lebenspracht entfalteten. Und so wurden die Laubbäume zu einem dichten Vorhang, der zu großen Teilen das Licht abhielt und mit ihm neugierige Blicke von außen. Ein Jeder war gezwungen ihn mit seinen eigenen Füßen zu beschreiten, um das zu erkunden, was sich in ihm abspielte. So tun wir es nun!
Was wir sehen ist nicht viel. Die Wölfe versteckten sich und schliefen über die Abenteuer hinweg, welche sie in der Dämmerungszeit durchlebt hatten. Das Gewürm, das im schwarzen Waldboden kroch, war nur der kleine Teil Leben, den die Insel hütete. So ruhig wie das Wasser schien, so aufregend waren die Nächte. Mit dem sachten Wind vom nahen Meer schaukelten die Kronen in luftiger Höhe, als gaben sie eine Vorahnung dessen, was das Land für seine Bewohner bereithielt.
Was bleibt uns, um der Spur der Wölfe über dieses warme Stück Land zu folgen? Genau – der Weg über den Rudelplatz. Er bildete das Zentrum des Wolfsreviers und bestand aus einer Lichtung, die im Sommer von hohen Sträuchern und Gräsern umgeben war. Es ist bis heute der intimste Ort einer jeden wölfischen Gemeinschaft! Hier trug es sich zu, das aufregende Leben der Vierbeinigen. Es war der Ort, der alles sah, der Grund, auf dem sich Streit und Freud' gleichermaßen zutrugen wie Geburt und Tod. Das Land der Wölfe hatte ein Herz – und diese Stelle der Insel war zweifellos der Knoten des lupinischen Seins.
Doch folgte man dem Küstenland gen Norden, so gelangte man zurück ins zweite Reich der Kälte. Denn dort, wo das warme Wasser des verborgenen Vulkans nicht heranreichte und auch die Sonne nicht stark genug war, das Grün unter der Erdschicht zum Blühen hervorzulocken, dort wurde es kalt und rau. Es war der Ort der Verstoßenen, derer, die schon alles gesehen hatten und sich zurückzogen, um allein zu sein. Weit genug draußen, um nicht gehört zu werden, weit genug, um seinen Gedanken das Feld zu überlassen.
Doch oben, ganz weit oben an der Spitze der Halbinsel erst, dort vollzog sich das Urnatürliche. Dort tobten Stürme, die das Meer zu meterhohen Wellen auftürmten und mit aller Gewalt gegen das Gestein schlugen. Dies war der nördlichste Punkt der ganzen bekannten Welt der Wölfe. Wer hier weilte, konnte nur ein Kind der Verzweiflung sein. Die Pfoten der Wölfe, die es hier her trieb, trugen ihren Herrn in das sichere Ende, verließ er dieses letzte Stück Land, um mit dem Wasser eins zu sein. Das Kap der Verzweiflung war die Endstation des blühenden Lebens. Hierher konnte es niemanden verschlagen, der noch etwas vom Dasein hielt. Und so übertönten die Wellen die Schreie der Verlorenen bis in alle Ewigkeit, ohne Hoffnung auf Errettung durch die Lebenden.